Corona-Regeln Wie kam es zum plötzlichen Verlust des Genesenenstatus?

Stand: 19.01.2022 | Lesedauer: 7 Minuten
Von Tim Röhn, Benjamin Stibi

Der Bundesrat verabschiedete am Freitag neue Corona-Regeln - unter anderem diese: Der Genesenenstatus wurde verkürzt. Dem Gremium war anderes angekündigt worden als die nun geltenden drei Monate. Das ruft scharfe Kritik hervor. Virologe Streeck spricht von Willkür. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

Eigentlich ließ die Aussage, die noch kurz vor dem Sitzungsstart am vergangenen Freitag auf der Internetseite des Bundesrats stand, keinen Interpretationsspielraum zu. Dort hieß es zum 1015. Zusammentreffen des Gremiums: "Änderungen gibt es auch beim Genesenennachweis. (...) Die Geltungsdauer soll im Zuge einer europäischen Vereinheitlichung geringfügig kürzer werden und statt sechs Monaten 180 Tage betragen."

Geplant war demnach also eine winzige Anpassung jener Regel, die besagt, wie lange mit Covid-19 Infizierte in Deutschland als genesen gelten und somit etwa ihr 2G-Zertifikat nutzbar ist.

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Quelle: WELT

Nun aber kam es anders: Der Genesenenstatus gilt seit dem Wochenende nur noch für drei Monate - und das sorgt für Verärgerung und Kopfschütteln in Teilen der Wissenschaft und Politik.

Die Frage, die im Raum steht, lautet: Hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in Eigenregie und mithilfe einer seiner wichtigsten Behörden, dem Robert-Koch-Institut, ehemals Covid-Infizierten den Genesenenstatus aberkennen lassen, von heute auf morgen?

Lauterbach kündigte Vereinfachungen an

Aber von Anfang an: In jener Sitzung des Bundesrats hielt Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und 1. Vizepräsident des Bundesrats, eine Rede zur beabsichtigten Änderung der Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung und der Coronavirus-Einreiseverordnung, die das Bundeskabinett drei Tage zuvor beschlossen hatte.

Lauterbach erklärte als Vertreter des Kabinetts: Künftig solle nicht mehr das Parlament über die Gültigkeitsdauer des Genesenenstatus und die Frage entscheiden, wie lange und mit welchen Impfungen Bürger als vollständig geimpft gelten - sondern das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sowie das Robert-Koch-Institut (RKI).

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Konkret solle dies künftig über Hinweise auf der Internetseiten der Behörden geschehen. "Veränderungen finden nur statt ohne politischen Einfluss ausschließlich auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, also ohne eine Beeinflussung durch den Minister zum Beispiel", sagte Lauterbach.

Und weiter: "Wir informieren Sie, sodass Sie sich nicht regelmäßig diese Verweisseiten anschauen und prüfen müssen, ob sich da etwas verändert hat. Selbstverständlich bekommen Sie dann von uns entsprechende Nachricht, und wenn von Ihnen Einwände vorgetragen werden, dann werden die natürlich berücksichtigt."

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Diese Lösung sei "eine gute Lösung, denn sie ist flexibel. Wir können schnell reagieren, wir können immer den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand abbilden, wir haben aber gleichzeitig auch eine rechtlich sichere Grundlage." Dass die Dauer des Genesenenstatus verkürzt werden könnte, erwähnte der Minister mit keinem Wort. Der Bundesrat stimmte dem Gesetzesvorhaben einstimmig zu.

Eine Twitter-Userin wurde aufmerksam

Am Freitagabend um 22.15 Uhr, etwa zwölf Stunden nach Sitzungsende, verfasste eine Twitter-Userin einen Tweet, gerichtet an das RKI: "Mit welcher Begründung gilt man ab 14.01.22 nur noch für 90 Tage als Genesen? Wo ist die Evidenz für diese Festlegung?"

Kurz danach fiel auch anderen Bürgern die entsprechende Anpassung durch das RKI auf der im Bundesgesetzblatt veröffentlichten RKI-Homepage auf. Und auch die angegebene PEI-Seite beinhaltete nun eine Änderung: Mit dem Einmalimpfstoff von Johnson & Johnson Geimpfte gelten nunmehr nicht mehr als vollständig geimpft.

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Auf die Frage, wie es zu der deutlichen Verkürzung des Genesenenstatus kam, teilte das Gesundheitsministerium am Dienstag mit, diese sei aufgrund "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse" erfolgt. Der Bundesrat habe der notwendigen Verordnung zugestimmt. Diese ermögliche es, "Anpassungen zeitnah durchzuführen und sicherzustellen, dass auch künftigen Veränderungen im wissenschaftlichen Bereich stets Rechnung getragen werden kann."

Von der Internetseite des Bundesrats verschwand mittlerweile der Hinweis auf den Plan, den Genesenenstatus auf 180 Tage zu begrenzen. Auf der RKI-Seite ist bloß diese Erklärung zu finden: "Die Dauer des Genesenenstatus wurde von 6 Monate auf 90 Tage reduziert, da die bisherige wissenschaftliche Evidenz darauf hindeutet, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikronvariante haben."

Unter die Erklärung waren am Montagnachmittag zwei Links gestellt: einer zu einer Studie des britischen Epidemiologen Neil Ferguson, einer zu einem "technischen Briefing" der britischen Gesundheitsbehörde UKHSA. Die Inhalte belegen die Notwendigkeit der Herabsetzung des Genesenenstatus nicht.

Änderungen mit großer Wirkung

Interessant ist, dass Sabine Dittmar, SPD-Bundestagsabgeordnete und parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, schon bei einer Rede im Bundestag am Donnerstag von einer Verkürzung des Genesenenstatus gesprochen hatte. Sie bezog sich auf "wissenschaftliche Erkenntnisse". Die Anfrage von WELT von Montagabend, wann sie von der bevorstehenden Änderung erfahren und welche wissenschaftliche Evidenz gemeint gewesen sei, beantwortete sie bis Dienstagnachmittag nicht.

Die Anpassung des RKI und PEI haben drastische Auswirkungen. Mehrere Bundesländer (u.a. Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz) beziehen sich bei der Anerkennung von 2G-Zertifikaten direkt auf die Corona-Schutzverordnung des Bundes. Vor mehr als drei Monaten Genesene oder JJ-Geimpfte wird damit von jetzt auf gleich der Zugang zu vielen Teilen des gesellschaftlichen Lebens verwehrt.

Und bundesweit ist es so, dass vor Kurzem mit Covid infiziertes medizinisches Personal nun rechtzeitig vor Inkrafttreten der Impfpflicht in Gesundheitsberufen am 15. März doch noch geimpft werden muss, um den Arbeitsplatz zu erhalten.

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Das Vorgehen sorgt in Wissenschaftler- und Politiker-Kreisen für erhitzte Diskussionen - WELT-Informationen zufolge auch unter den Mitgliedern des Bundesrats. Ein Bundesrat-Mitglied, das namentlich nicht genannt werden wollte, schrieb WELT: "Zum Genesennachweis haben wir uns darauf verlassen, dass beide Institute sich strikt an wissenschaftlichen Kriterien orientieren." Nun gebe es Zweifel.

Ein Sprecher von Bundesrats-Vize Haseloff verwies gegenüber WELT auf dessen Rede am Freitag, als er gesagt hatte: "Wichtig ist, dass bei aller Delegation der Zuständigkeit bezüglich der Detailfestlegung aus Ihrem Ministerium und damit aus der Bundesregierung auf diese beiden Institute (RKI und PEI, d. Red.) klar ist, dass das Ganze nicht politisch übersteuert wird." Wenn solche Behörden politische Anweisungen bekämen, "dann verlieren wir das Vertrauen, dass es auch zukünftig Politikberatung aus der Wissenschaft heraus gibt und dass man uns, wenn wir uns darauf stützen, abnimmt, welche staatlichen Maßnahmen wir zum Beispiel auf dem Verordnungswege damit verbinden". Und weiter: "Wir brauchen Vertrauen in die Maßnahmen. Wir schränken schließlich Grundrechte ein."

Tino Sorge, Gesundheitsexperte der CDU-Bundestagsfraktion, sagte WELT: "Entscheidungen wie diese müssen den Bürgern viel besser erklärt werden. Das Aufklären und Erklären sind kontinuierliche Aufgaben des RKI und des Bundesgesundheitsministeriums. Das ist eine Frage der Kommunikation, vor allem auch eine Frage der Akzeptanz." Bei Neuregelungen sei "eine transparente Kommunikation, die keine Fragen offen lässt", unerlässlich.

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Virologe Hendrik Streeck, der auch Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung ist, geht einen Schritt weiter. Er sagte WELT am Dienstagvormittag: "Es obliegt natürlich dem Robert-Koch-Institut, festzulegen, wie lange der Genesenenstatus gültig sein soll. Aber wir müssen wirklich aufpassen, dass die Entscheidungen auf fundiertem Wissen basieren und nicht willkürlich getroffen werden."

Es gebe wenige Gründe, Genesene nicht Geimpften gleichzustellen, so Streeck weiter. "Vor allem, da sie in den meisten Fällen eine viel breitere Immunantwort" hätten: "In der Schweiz wurde der Genesenenstatus jüngst aus guten Gründen auf zwölf Monate verlängert. Dass eben jener Status in Deutschland auf drei Monate verkürzt wird, ist aus meiner wissenschaftlichen Erkenntnis nicht erklärbar."

Juristisch heikles Vorgehen

Das gesamte Vorgehen ist womöglich auch juristisch problematisch: Zum einen besagt die Wesentlichkeitstheorie, dass alle Fragen, die für die Ausübung der Grundrechte wesentlich sind, vom Parlament getroffen werden müssen. Der Bundestag hat zwar die Bundesregierung ermächtigt, per Verordnung Ausnahmen und Erleichterungen für "Immunisierte" von den Corona-Maßnahmen zu regeln.

Das Gesundheitsministerium hat nun aber wiederum die Verantwortung dafür an zwei Bundesoberbehörden übertragen. Die Definition von "geimpft" und "genesen" hängt damit nun ausschließlich von einer Internetseite ab, die sich unbemerkt und blitzschnell ohne klar benannten Verantwortlichen ändern kann - so wie am vergangenen Wochenende geschehen.

Der Verfassungsrechtler Niko Härting sagte WELT, zu Wochenbeginn hätten sich angesichts der veränderten Regelungen bereits mehrere Bürger mit der Bitte um Rechtsbeistand bei ihm gemeldet. "Mir erscheint das Vorgehen nicht nachvollziehbar", sagte er: "Das werden sich die Gerichte anschauen müssen."


Quelle: WELT.de